Stress ist gesund – Auf das „Wie“ kommt es an

Stimmt es eigentlich, wie immer behauptet wird, Stress mache krank? Stress kann unter bestimmten Umständen sogar ausgesprochen gesund sein! Ebenso ist Stress keine Begleiterscheinung der heutigen Zeit. Vielmehr kann man aus evolutionärer Sicht sagen, dass der Mensch geradezu für Herausforderungen geschaffen ist. Aber die Frage ist: für welche und für welche nicht.

Geprägt hat das Wort „Stress“ der 1907 in Wien geborene Arzt Hans Selye. Kurz gefasst beschreibt er diesen Zustand so: Bei äußerster Bedrohung gerät der Körper in Sekundenbruchteilen in einen inneren Alarmzustand. Die Pupillen weiten sich, um das Gesichtsfeld zu verbreitern und der Gehörsinn wird sensibilisiert. In der Haut richten sich durch die Kontraktion der kleinen Haarmuskeln die Haare auf. Die Darmtätigkeit wird heruntergefahren, die Verdauung gebremst. Herztätigkeit und Atmung werden angeregt und der Blutdruck erhöht sich um die Muskulatur besser zu durchbluten und stärker mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Die Körpertemperatur erhöht sich, was Schweißausbrüche zur Folge hat um eine Überhitzung zu verhindern. Stresshormone wie Adrenalin und Kortisol sorgen für die Bereitstellung von Energie (Glukose oder Fette). Kurz: der Körper wird aufgerüstet für Heldentaten.

Eine zeitlich begrenzte Mobilmachung, wenn danach eine ausreichende Erholungsphase folgt, ist nicht das Problem. Befindet sich der Mensch jedoch im Dauerstress, läuft der Körper permanent auf Hochtouren bis er irgendwann völlig erschöpft ist. Dieses Zusammenbrechen hat in unserer modernen Gesellschaft einen Namen erhalten: Burnout-Syndrom.

Neu entdeckt: Das Unruhe-Stresssystem

Heißt das nun: um Gottes Willen, jeden Stress vermeiden? Ganz und gar nicht. Menschen brauchen die Herausforderung. Um uns dafür zu motivieren wird ein ganzer Botenstoff-Cocktail ausgeschüttet, der körpereigene Aufputschmittel wie Dopamin, endogene Opioide, Endorphine oder Oxytozin enthält. Jeder kennt das gute Gefühl, etwas geleistet, gemeistert oder gut „weggearbeitet“ zu haben. Auch dann, wenn es anstrengend war. Dies wird als „guter Stress“ oder „Eustress“ bezeichnet. Dafür ist der Mensch geschaffen. Das hat den Menschen in seiner Entwicklung vorangebracht.

Wie aber entsteht „Distress“, diese Form der Belastung, die uns krank macht? Der Hirnforscher Professor Joachim Bauer beschreibt in seinem kürzlich erschienen Buch „Arbeit“ mit dem Untertitel „Warum unser Glück von ihr abhängt und wie sie uns krank macht“, dass erst vor einigen Jahren ein zweites, bisher unbekanntes Stresssystem im Gehirn entdeckt wurde. Während das „klassische“ Stresssystem aktiv wird wenn eine konkrete Aufgabe zu stemmen ist, tritt das neu entdeckte System immer dann in Aktion, wenn ein diffuses Umfeld zu überwachen ist, wenn also eine unüberschaubare Situation herrscht, in der jederzeit irgendetwas passieren kann und dabei aber nicht klar ist, was es sein wird. Bauer nennt dies das „Unruhe-Stresssystem“.

Eustress oder Distress

In stressfreie Phasen befindet sich der Mensch in einem Ruhe- und Gleichgewichtszustand, den Mediziner als „Homöostase“ bezeichnen. Stellen sich Aufgaben oder Gefahren schaltet der Organismus in die sogenannte „Allostase, das „klassische“ Stresssystem, um. Wie schon erläutert ist dies nichts Schlechtes, im Gegenteil. Der Unterschied zwischen Distress und Eustress liegt in der Beherrschbarkeit der Situation. Entsteht das Gefühl, Dinge nicht mehr im Griff zu haben, sie nicht mehr kontrollieren oder verantworten zu können, feuert das „Unruhe-System“ und entzieht dem Betroffenen die Energie. Viele moderne Arbeitsplätze beanspruchen dieses System in besonderer Weise. Sie lassen eine konzentrierte Befassung mit nur einer bestimmten Aufgabe nicht mehr zu. Deshalb sind insbesondere solche Menschen gefährdet, die hohe Werte und Ansprüche an ihre Arbeit haben. Das an sich gute Bedürfnis seine Arbeit möglichst gut machen zu wollen, nichts schuldig zu bleiben, bis hin zum Perfektionismus kann unter bestimmten Arbeitsbedingungen unweigerlich zum Burnout führen. Soll die nun Konsequenz daraus sein, schludriger, verantwortungsloser und mit wenig Anspruch seine Arbeit zu machen? Sicher nicht. Vielmehr müssen die Arbeitsbedingungen dem menschlichen Organismus angepasst werden und nicht umgekehrt.

Von Multitasking zu ADHS

Unsere Zeit ist geprägt von einer Reizüberflutung, wie noch nie in der Menschheitsge­schichte. Ein hohes Maß an Informationen und Impulsen, nicht nur am Arbeitsplatz, führt immer mehr zu einer breit gestreuten, aber flachen Aufmerksamkeit. Im modernen Sprachgebrauch gibt es dafür sogar einen Namen: Multitasking. Gehörte es vor einiger Zeit im Leistungsbereich noch zum guten Ton, multitaskingfähig zu sein, warnen heute Hirnforscher ausdrücklich davor. Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han erklärt, dass die Zeit- und Aufmerksamkeitstechnik Multitasking keinen zivilisatorischen Fortschritt darstelle. Auch fördere diese nicht die Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz – ganz im Gegenteil. Es handele sich vielmehr um einen Regress, also um einen Rückschritt in der Entwicklung. Schon Kinder und Jugendliche verbringen einen Großteil ihrer Zeit unruhig zwischen Fernsehen, Internet, Spielkonsolen oder Smartphone. Kein Wunder, dass sie verlernen, sich auf eine Sache zu konzentrieren und nicht selten die Diagnose ADHS erhalten. Viel besser täte ihnen Fußball zu spielen, zu musizieren oder etwas zu basteln. Da lobe ich mir meinen Opa – Gott hab‘ ihn selig – der mich immer ermunterte: „Bub, mach‘ immer eins nach dem anderen, so wie der Bauer die Klöß‘ ist.“