Dicke Menschen sind undiszipliniert, willensschwach und deshalb an ihrem Übergewicht selber schuld – so lautet heutzutage ein gängiges Urteil. Im ersten Teil dieses Artikels habe ich letzte Woche dargelegt, dass dies eine unzulässige Vereinfachung eines weit verbreiteten Problems unserer Zeit ist. Vielmehr haben wir es bei Übergewicht überwiegend mit Einflüssen zu tun, die sich dem willentlichen Zugriff der Betroffenen entziehen. Trotzdem wird dieses Vorurteil vermeintlich jedes Mal aufs Neue bestätigt, wenn man wohlbeleibte Menschen auf der Straße einen Hamburger oder Hotdog to go verschlingen sieht.
Was man in der Regel nicht sieht, ist die Scham der Übergewichtigen darüber, dass sie der Kalorienbombe nicht widerstehen konnten. Ebenso unsichtbar sind Schuldgefühle, Hilflosigkeit oder Selbstverachtung, die Wohlbeleibte blind an den Schaufenstern mit Sommerkleidern vorbeigehen lassen, damit sie sich nicht in dem Glasspiegel anschauen müssen. Adipöse (übergewichtige) Menschen leiden oft massiv unter ihrer Situation. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es immer mehr Dickleibige gibt. Dass der Kampf gegen überflüssige Pfunde insbesondere auf dem Schauplatz der Psyche stattfindet, wird zunehmend von der Fachwelt erkannt. Während bisher der Fokus bei der Behandlung von Übergewicht auf Diäten, Bewegungsprogrammen und im schlimmsten Fall auf chirurgischen Eingriffen lag, tritt nun der „Wirkfaktor Seele“ in den Vordergrund.
Abnehmen beginnt im Kopf und in der Seele
Jeder weiß aus eigener Erfahrung, wie hochemotional das Essen besetzt ist. Gefühle wie Angst, Frustration, Stress oder Trauer „frisst“ man buchstäblich „in sich hinein“, der Schokoriegel spendet Trost, vor dem übervollen Kühlschrank wird die innere Leere „gestopft“. Für unterdrückte Gefühle, die nicht auf normalem Wege befriedigt werden können, muss das Essen herhalten. Was zuerst kommt – das kompensatorische Essen oder die Esssucht, die psychische Folgen hat –, das ist im Teufelskreis des Übergewichts so müßig zu erkunden wie die Frage nach der Henne und dem Ei.
Wenn es gute Gründe gibt, wofür das übermäßige Essen oder das Fett auf den Rippen gebraucht wird, dann entzieht sich eine andere Lösung der Willenskraft der Betroffenen. In diesem Moment sind andere Konzepte gefragt, nämlich solche, die auf der psychischen Ebene zu finden sind. Damit diese Konzepte überhaupt greifen können, braucht es die Einsicht der Übergewichtigen, dass sie keineswegs die Big Loser sind, sondern von der Natur mit einem Körper versehen wurden, der besonders intensiv auf problematische Gefühlszustände reagiert. Anstatt sich abzuwerten, ist der erste Schritt, sich selbst und seinen Körper anzunehmen und damit auch in die Selbstverantwortung zu gehen.
Kummerspeck
Wir trennen durch die Begriffe Körper, Geist und Seele sprachlich das, was untrennbar miteinander verbunden ist. Jede seelische Regung ist eine Körperreaktion und jeder Gedanke schwingt durch Körper und Seele. Veränderungen kann man niemals gegen sich, sondern nur mit sich erreichen. Gegen sein Gewicht oder gegen seinen inneren Schweinehund zu kämpfen, kann niemals zum dauerhaften Erfolg führen, denn Druck erzeugt Gegendruck. Die beste Art, etwas nie mehr loszuwerden, ist, dagegen zu kämpfen.
Nichts geschieht ohne Ursache, selbst dann, wenn sich diese der Kenntnis entzieht oder schwer verstehbar ist. So können beispielsweise alte, nicht verdaute seelische Verletzungen heute noch Brutstätte von Spannungsfeldern sein, die sich auf den Körper auswirken. Wie Stachel stecken diese oft in Seele und Körper und beeinflussen die Körperchemie. Nicht umsonst hat der Volksmund den Begriff Kummerspeck geprägt. Dabei handelt es sich um einen Selbstheilungsversuch des Organismus: Anstelle einer Lösung auf der psychischen Ebene, etwa durch eine Psychotherapie oder ein Coaching, übernimmt der Körper die Gefühlsverbesserung durch Essen und Fetteinlagerungen. Hat sich dies erst einmal manifestiert, sind alle herkömmlichen Abspeckmaßnahmen erfolglos oder nur von kurzer Dauer. Erst wenn die psychischen Störfelder beseitigt sind, kann der Körper auch das Fett loslassen.
Das dicke Fell
Ein zentrales Thema dabei sind Grenzen. Übergewichtige, die mit dem Körper Grenzen setzen und an deren dickem Panzer scheinbar alles abprallt, haben oft Mühe, sich von der Umwelt abzugrenzen. Sie können sich weniger gut durchsetzen, getrauen sich nicht, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren, nehmen sie gar nicht erst wahr und sie werden leichter ausgenutzt. Die täglichen Demütigungen hinterlassen wiederum Spuren. Dass Übergewichtige Nachteile im Beruf und privat hinnehmen müssen, kann nicht geleugnet werden. In meiner Arbeit mit übergewichtigen Frauen – und zunehmend auch Männern – erfahre ich oft, auf welche Weise diese offene oder versteckte Benachteiligungen hinnehmen müssen, die Spuren am Selbstwertgefühl und der Selbstachtung hinterlassen. Selbstwerttraining und die Stärkung der Selbstachtung sind deshalb wichtige Bestandteile meines Coachings.
Grenzen zu setzen und Nein sagen zu lernen, ist für viele Übergewichtige ein entscheidendes Thema. Ist der seelische Grenzschutz nicht intakt, haben Angreifer ein leichtes Spiel. Gerade weil dicke Menschen sich oft minderwertig fühlen, neigen sie dazu, mehr Grenzverletzungen zu tolerieren. Eine gute Selbstbeziehung ist das beste seelische Immunsystem. Minderwertigkeitskomplexe, fehlende Selbstachtung oder Selbstabwertung zerstören das Immunsystem und machen anfällig für seelische Erkrankungen. Da ist es nur allzu gut verständlich, dass der Körper in die Bresche springt und ein dickes Fell aufbaut. Diese Körperreaktionen werden vom autonomen Nervensystem gesteuert und entziehen sich damit dem willentlichen Einfluss der Betroffenen.
Dicker Körper – dicke Gründe
Als Krankheitsgewinn bezeichnet man in der Medizin die objektiven und/oder subjektiven Vorteile, die ein Kranker aus seiner Krankheit bzw. die ein Patient aus seiner Diagnose zieht. Daraus abgeleitet habe ich den Begriff „Übergewichtsgewinn“. Welche Funktion das Übergewicht eingenommen hat und wofür es regelrecht gebraucht wird, ist ein wichtiger Faktor, der darüber entscheidet, ob ein Dicker sein Gewicht reduzieren kann oder nicht. In jedem dicken Körper stecken dicke Gründe. Werden diese Gründe nicht beseitigt oder werden keine anderen Lösungsmöglichkeiten gefunden, ist selbst durch Radikalmaßnahmen wie Magenverkleinerungen oder andere chirurgische Eingriffe keine dauerhafte Gewichtsreduktion möglich. Ich habe schon öfter mit Klienten gearbeitet, die trotz Magenband nach anfänglichen Erfolgen wieder heftig zunahmen und dadurch erhebliche gesundheitliche und seelische Probleme bekamen.
Für Übergewichtsgewinn gibt es so viele Beispiele, wie es Übergewichtige gibt. Dieser „Gewinn“ ist immer subjektiv und mit der Verstandeslogik meist nicht erklärbar. Gerlinde P. zum Beispiel ließ unbewusst ihre weiblichen Formen unter dem Fett verschwinden und entzog sich damit dem Konkurrenzdruck gegenüber anderen Frauen. Zugleich verbesserte sich die Beziehung zu ihrem Mann, da dieser nun weniger mit seiner Eifersucht zu tun hatte. Heinz K. (57) legte sich bereits in jungen Jahren einen Airbag-Bauch zu, um sich mit seiner Körpergröße von 1,62 Meter gegen die „großen Buben“ zur Wehr zu setzen. Verena M. brauchte ihre „gelben Berge“, um ihre Dünnhäutigkeit zu kompensieren. Als Krankenschwester hätte das tägliche Leid sonst sie aufgefressen. Ich könnte noch unzählige Beispiele aufführen, die alle dieselbe Erkenntnis übermitteln: Wenn der Mensch gute Gründe hat zuzunehmen, dann nimmt er zu, wenn er gute Gründe hat abzunehmen, nimmt er ab. Ja wirklich, so einfach ist das.
Der Übergewichtsgewinn ist das zentrale Thema, wenn alle anderen Maßnahmen, das Gewicht dauerhaft zu reduzieren, nicht fruchten. Dauerhaft abnehmen hat nichts mit dem richtigen Rezept, sondern alles mit dem richtigen Umgang mit sich selbst und seinen Lebensthemen zu tun. Deshalb ist mein Coaching zur dauerhaften Gewichtsreduktion genau auf diese Themen ausgerichtet.