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Es ist schon viele Jahre her, dass ich mitpeinlichkeit meiner Frau zu einer Hochzeit eines Geschäftspartners eingeladen war. „Polterhochzeit“ hieß es auf der Einladung und als Lokalität war angegeben „im Zelt auf der Dorfwiese“. Es war Spätsommer und abends schon recht frisch, deshalb schienen uns Jeans und ein warmer Pullover angemessen. Das Zelt präsentierte sich jedoch als ein ganz in Weiß gehüllter kleiner Festsaal und die anderen Gäste warteten mit festlicher Abendgarderobe auf. Es wurde ein kurzer Abend für uns. Völlig „underdressed“ war unser Hauptanliegen zu erklären, wie falsch wir die Einladung verstanden hatten. Zum frühestmöglichen Zeitpunkt erlösten wir uns aus dieser peinlichen Situation.

Was war passiert? Wir hatten uns doch gar nichts zuschulden kommen lassen. Aber wir hatten, wenn auch unwissentlich, gegen eine Norm verstoßen und waren buchstäblich aus der Rolle gefallen. Derartige Schamthemen und Peinlichkeiten lauern überall. Die Befürchtung, sich zu blamieren und in peinliche Situationen zu geraten, ist unser ständiger Begleiter. Siegmund Freud behauptete, Scham sei das Gefühl, das Menschen von Tieren unterscheidet. Darin irrte er: Jeder Haustierbesitzer kann dies widerlegen. Vielmehr ist Scham ein biologisch verankertes Gefühl, das sich bei allen Säugetieren, die in sozialen Gruppen leben, vornehmlich beim Menschen, nachweisen lässt.

Scham – das Aschenputtel unserer Gefühle?

Wer sich schämt, erlebt das Gefühl, Anforderungen oder Kriterien, die aus seiner Rolle, seinem Status oder gesellschaftlichen Regeln resultieren, nicht erfüllt zu haben. Scham ist ein sehr nützliches Gefühl überall dort, wo Menschen zusammenkommen und es wichtig ist, Regeln des sozialen Miteinanders einzuhalten. Auch zur Regulierung der persönlichen Leistungsfähigkeit hilft das Schamgefühl: Man will sich schließlich nicht blamieren. Problematisch werden Schamgefühle, wenn sie Menschen dauerhaft verunsichern. Kommt die Scham, möchte man im Boden versinken oder sich einfach in Luft auflösen. Scham ist das Aschenputtel unserer Gefühle. Pleiten, Pech und Pannen lauern überall: Mitten im Konzert klingelt das Handy – noch nie erlebten wir den Klingelton als so peinlich wie in diesem Moment –, bei einer Ansprache verlieren wir den Faden, Blackout – die Horrorvorstellung jeden Redners – oder die falschen Worte zum falschen Zeitpunkt zu den falschen Leuten – Worte, die wie ein Bumerang auf uns selbst zurückfliegen. Der Stoff, aus dem solche Geschichten gestrickt sind, ist schier unerschöpflich: Für den einen sind es vielleicht Komödien, für die anderen aber Tragödien. Je intimer, umso schlimmer. Unsere Sexualität geht niemanden etwas an, selbst wenn nur ein winziger Teil davon erkennbar wird. „Tina, was kosten die Kondome?“ An diesen AIDS-Spot erinnern sich noch viele, auch wenn die Kampagne mit Hella von Sinnen und Ingolf Lück bereits 26 Jahre zurückliegt.

Fremdschämen

Ein seltsames Wort, das sich nur unter Berücksichtigung des sozialen Bezugs erklären lässt. Geschehen anderen Menschen, denen wir uns nicht zugehörig fühlen, peinliche Dinge, dann finden wir das belustigend, empörend oder empfinden gar Schadenfreude. Anders, wenn „unseren Leuten“ so etwas passiert. Bei einem peinlichen Missgeschick unserer Kinder, Partner oder Freunde bleibt uns meist das Lachen im Hals stecken und Schadenfreude will auch nicht aufkommen. Wir leiden mit und übernehmen die unangenehmen Gefühle fast wie unsere eigenen. Aber nicht nur das Mitleiden führt zum Fremdschämen, sondern es tritt auch auf, wenn andere nicht die Verantwortung für ihr Fehlverhalten übernehmen. Je weniger sich die Akteure selbst schämen, umso mehr „fremdschämen“ sich jene oft unfreiwilligen Zeugen, die noch Schamempfindungen besitzen. So können wir uns für Kollegen schämen, die unseren Berufsstand verunglimpfen, für Familienangehörige, die sich anders geben, als sie in Wirklichkeit sind, oder für Landsleute, die sich im Urlaub so danebenbenehmen, dass wir die Zugehörigkeit zu ihnen als belastend empfinden. Die Wurzeln von Fremdscham sind also Mitgefühl und Zugehörigkeit. Übrigens: Wer sich für die Teilnehmer sogenannter Talentsuche- oder Superstar-Shows fremdschämt, muss sich keine Gedanken machen, sondern darf mit gutem Gewissen den Ausschaltknopf betätigen.

Ãœberleben im Rudel

Warum verursacht der Verstoß gegen geltende Normen der eigenen Bezugsgruppe solch starke Störgefühle? Adam und Eva bedeckten ihre Blöße vor Gott mit einem Feigenblatt, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten und sich ihrer Nacktheit bewusst wurden. Scham ist kein Phänomen unserer heutigen modernen Gesellschaft mit all ihren sozialen Errungenschaften. Die Menschen waren in ihrer Entwicklungsgeschichte immer darauf angewiesen, einem Rudel zuzugehören. Um das Überleben zu sichern, war es notwendig, sich den Normen des Rudels anzupassen. Beim Verstoß gegen diese Normen drohten der Ausschluss und damit der sichere Tod, denn alleine war der Mensch nicht überlebensfähig. Obwohl sich dies in der heutigen Zeit völlig verändert hat, steckt das Grundgefühl gewissermaßen noch in unseren Überlebensprogrammen. Das Schamgefühl ist wie das rote Lämpchen, das aufleuchtet, wenn wir uns etwas zuschulden kommen lassen. Gerade in Gesellschaften mit hoher Dichte, wo jeder jeden kennt, zum Beispiel in kleinen Orten, sind die Schamprobleme besonders ausgeprägt. Das gesellschaftliche Urteil kann sogar dazu führen, dass der beschämte Mensch keinen anderen Ausweg aus Schande und Beschämung sieht, als den Freitod zu wählen. Fühlt sich jedoch jemand der Gruppe oder deren Normen nicht zugehörig, ändert sich das Gefühl. Pubertierende Jugendliche, die gerade einen Abnabelungsprozess von ihren Eltern durchmachen, empfinden deshalb auch diese mit ihren spießigen Wertvorstellungen als peinlich und kompromittieren die Eltern wiederum mit den Normen ihrer Cliquen.

Gesunder Umgang mit Scham

Ist ein Missgeschick passiert, gilt es, sich schnell wieder das Zugehörigkeitsgefühl zu seiner Bezugsgruppe zu sichern. Gebe ich die Peinlichkeit zu und stehe zu meinem Missgeschick, schaffe ich wieder Verbindung zu den anderen. Ich bringe damit zum Ausdruck: „Seht her, ich empfinde wie ihr, aber das ist mir halt passiert.“ Eine gute Möglichkeit besteht darin, die Peinlichkeit durch Mitlachen aufzulösen, wenn Heiterkeit ausbricht. Dies schafft Gemeinsamkeit und entschärft den hohen Anspruch an die eigene Unfehlbarkeit. Sich zu entschuldigen gebietet schon der Anstand. Dabei wird oft vergessen, sich auch bei sich selbst zu entschuldigen, denn die Beziehung zu sich selbst und das Pflegen des eigenen Wertesystems sind genauso wichtig wie die Beziehung zu den Angehörigen seines „Rudels“. Damit der Umgang mit Schamgefühlen nicht allzu sehr zur Last wird, können wir uns auch an Wilhelm Busch halten, der schon vor fast 200 Jahren textete: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.“

3 comments

  1. Roland Kolb

    Hallo Elmar,

    wieder mal ein schöner Beitrag mit einer Geschichte die ich schon 2 x live erleben durfte!

    Grüße Roland

  2. Roland Kolb

    Hallo Elmar,
    wieder mal ein toller Beitrag, die Geschichte durfte ich so schon 2 cx live erleben!
    Weiter so
    Grüße Roland

  3. Ilona Grimm

    Irgendwie habe ich mich in dieser Geschichte wiedererkannt!

    Das gute daran: Mit zunehmendem Alter werde ich gelassener und toleranter, auch oder gerade in solchen Situationen, in denen man „irgendetwas falsch gemacht hat“.
    Mir gegenüber und den anderen!

    Liebe Grüße Ilona

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